Die Biennale Venedig unter dem Titel «All the Worlds Futures» versprach einen umfassenden Blick auf die künstlerischen Positionen der Gegenwart. Viele junge shooting stars der Kunstszene erhielten von Kurator Okwui Enwezor erstmals ein Forum, ihre Werke zu zeigen. Die Autorin, welche bereits im Juli das offizielle Art Educational Programm für Lehrpersonen der Biennale absolviert hatte und mit dem Ausstellungskonzept vertraut war, lieferte das nötige Hintergrundwissen, um in der unüberschaubaren Vielfalt von Installationen, Performances, Fotografien, Gemälden, Raum- und Klangensembles, Konzeptarbeiten und Skulpturen den roten Faden im Blick zu behalten und einen Zugang zu den chiffrierten Werken zu finden.
Den Anfang unseres Biennalebesuches machten wir in der 200 Meter langen Corderie des Arsenale-Geländes, einer riesigen Halle, die während der Renaissance als Seilerei der Schiffswerft diente. Ausgehend von Klees Zeichnung «Angelus Novus» und Walter Benjamins berühmten Äusserungen dazu, war es ein Ziel der diesjährigen Biennale, zum Nachdenken über den Stand der Welt im Jahre 2015 anzuregen. Dies versprach also ein Biennalebesuch zu werden, bei dem nicht mit leicht verdaulicher Kunstkost zu rechnen war.
Enwezor entwarf einen beeindruckenden Ausstellungsbeginn. Als «Raum der Entschleunigung» sollte die Ausstellung wahrgenommen werden und so begann sie sinnigerweise in einer stockdunklen Halle. Dies gehörte ebenso zur Absicht des Ausstellungskonzeptes wie ihr hoher intellektueller Anspruch, der in einer grossen Zahl sozialkritischer und politischer Botschaften vorgetragen wurde. Die Begegnung mit Adel Abdessemeds «Nympheas», einer raumfüllenden Installation aus Kebab-Messsern, die sich in einem dunklen Raum ausbreiteten, machten den Anfang des faszinierenden Rundgangs. Gewalt und ihre oft verschleierte Präsenz im Alltag sind Grundthemen des algerischen Künstlers, der mit seinem Werk nicht zufällig auf Monets Seerosenbilder anspielte.
Der kürzlich verstorbene amerikanische Künstler Terry Adkins war mit seinen musikalischen Skulpturen vertreten und mit einer Arbeit, die sein lebenslanges Interesse an Rassenidentität repräsentierte. Rassenfragen kamen in ausserordentlich vielen Werken der Biennale ins Spiel, so in Melvin Edwards «Lynch-Fragments» und in Arbeiten von Daniel Boyd, der die Kolonialisierung im weitesten Sinn zum Thema seiner technisch raffinierten Bilder machte. Seine Arbeiten stellten die Institution des Museums in Frage, die als «Höhepunkt kultureller Piraterie» viele Schätze ausgeplünderter Völker beherbergt.
Das war nur eine der kritischen Äusserungen zum Status quo der Kunstwelt an der diesjährigen Biennale, die den aufgeschlossenen und ungeschönten Blick des Kurators auf die Kunstwelt zeigte. Auch andere Künstler nutzten die Biennale zur Infragestellung der Kunstszene schlechthin. Erstmals war so die «Gulf Labour Artist Coalition», eine politische Vereinigung von Kunstschaffenden, Kuratoren, und Professoren vertreten, die ein kritisches Auge auf die Ausbeutung von Wanderarbeitern in Abu Dhabi beklagten, die derzeit dort das repräsentative Museum «Guggenheim Abu Dhabi» errichten.
Taryn Simons Arbeit faszinierte alle, die sich über die gläsernen Vitrinen beugten, um ein Herbarium gepresster Blumen zu bestaunen. In Büchern klebten Blüten, die als «stumme Zeugen» der internationalen Politik vorgestellt wurden. Ein komplexes gedankliches Konstrukt war Grundlage ihrer Arbeit, die aufmerksames Lesen und Diskutieren unter den Lerndenden bedingte. Das Werk war nicht nur eine Augenweide, sondern faszinierte aufgrund seiner intellektuellen Raffinesse.
Ein Videodokument von Steve McQueen, der das tragische Schicksal von «Ashes» dokumentierte, kontrastierte mit den grossflächig angelegten Raumbemalungen der deutschen Künstlerin Katharina Grosse. Ihr Werk nahmen wir zum Anlass, die Grenzen der Malerei zu diskutieren, und schmunzelten über die keimenden Gräser in den aufgeschütteten Erdhügeln, die mitten in der künstlerischen Installation einen Hinweis auf das Natürliche boten. Wie zu erfahren war, gehörte dies nicht zur Intention der Künstlerin...
Pflanzensamen unterwerfen sich glücklicherweise auch in Venedig keinem Kunstdiktat. Dies musste auch die Künstlerin Pamela Rosenkranz erfahren, die das Privileg erhielt, den gesamten Schweizer Pavillon in den Giardini zu bespielen. Dazu verwandelte sie das Gebäude in einen gigantischen Pool, welcher mit einer rosafarbenen Flüssigkeit aus Evianwasser, Viagra, Silikon, Bionin und anderen Chemikalien gefüllt war. Die Betrachter konnten auf kleinstem Raum einen Blick auf den hautfarbenen Inhalt des Pools erhaschen und nahmen einen eigenartigen Geruch wahr, den die Künstlerin als «Duft von frischer Babyhaut» verstanden wissen wollte.
Welche unsichtbaren Ausdünstungen den Raum füllten, ob das Geräusch digital oder analog sei und ob die rosa Suppe giftig sei, blieb Teil der Spekulation; genauso vage und andeutungsreich blieben die Aussagen der Ausstellungsmacher. Dass die saubere, rosafarbene Kunst-Chemie schweizerischer Herkunft in der mediterranen Hitze Venedigs noch Tage zuvor ein chemisches Eigenleben führte und der Pavillon wegen technischer Probleme wochenlang unzugänglich war, war ein ironischer doch ungewollter Effekt des schweizerischen Auftrittes an der Biennale. Er machte klar, dass sich Gegenwartskunst gelegentlich selbst ad absurdum führt.
Dies erlebte auch der vom Untergang bedrohte Pazifikstaat Tuvalu, der eine eigene Repräsentanz an der Biennale erhielt. Das Bedrohungsszenario der Überschwemmung wurde in willkürlich überschwappenden Wasserbecken inszeniert. Die grosse Hitze des Sommers liess das Wasser in den Becken in rapidem Tempo verdunsten und hinterliess eine Kunstinstallation, die Tuvalu über Wochen hin als Insel «auf dem Trockenen» vorstellte.
So warfen die vielen faszinierenden Einblicke der diesjährigen Biennale unter anderem die Frage auf, ob manche Künstler der Industriestaaten Hightech als Camouflage für mangelhafte Inhalte einsetzen. Wohl aus diesem Grund gelang es den vielen Künstlern der dritten Welt, wie dem Kolumbianer Oscar Murillo oder Ibrahim Mahama aus Ghana, mit einfachsten Mitteln existentielle Fragen zu thematisieren, die uns alle fraglos überzeugten.
Der nächste Tag war einem Besuch in Padua gewidmet. Wir nutzten die Gelegenheit, ein bedeutendes Werk der klassischen Malerei zu studieren: Giottos Arenakapelle. Der Kontrast zum Tags zuvor besichtigten malerischen Environement von Katharina Grosse könnte zwar grösser nicht ausfallen, bot aber inspirierende Querverbindungen.
Nach einem heiteren gemeinsamen Mittagessen auf der Piazza und dem Besuch von Giusto di Menabuois wunderbarem Baptisterium kehrten wir nach Venedig zurück. Ein harter Kern schloss sich gegen Abend noch dem Besuch einer Ausstellung im Palazzo Franchetti an, wo aktuelle Künstler Auftragswerke in Glas zeigten. Am Montagmittag versammelten wir uns wieder, um kunstinspiriert den Heimweg nach Zürich anzutreten.